Ein Haus am Meer
Ill: Helga Bansch
Verlag: Jungbrunnen
ISBN: 3-7026-5772-X
Inhaltsangabe
Die Schnecke träumt von einem Haus am Meer. Eines Tages packt sie ihre Badesachen ein und macht sich auf in Richtung Süden.
Auf der Reise läuft ihr ein Riese über den Weg. Seine Schritte hallen laut beim Gehen. Er fragt die Schnecke nach ihren Reiseplänen. Und weil auch er gerne ans Meer möchte, bietet der Riese ihr an, sie zu begleiten. Vorsichtig nimmt er die Schnecke in die Hand und es geht mit Riesenschritten über Häuser und Dörfer, Bäume und Berge in Richtung Süden.
Endlich! Nach 77 Schritten liegt das Meer vor ihnen.
„Ist das blau!“, sagt die Schnecke und ist glücklich. Aber auch ein wenig traurig, weil sie nicht weiß, was sie dem Riesen dafür schenken könnte, dass er sie so schnell ans Meer gebracht hat. Doch der Riese ist schon längst zufrieden. Denn die Schnecke hat ihm gezeigt, dass es sich lohnt, ein Ziel zu verfolgen.
Rezensionen
Die Schnecke (weiblich) möchte gern ans Meer. Drei Jahre, schätzt sie, wird sie brauchen von Wien bis an die Adria. Kein Wunder also, dass sie „Ja“ sagt, als der Riese (männlich) fragt, ob er sie mitnehmen soll. Nach 77 Schritten sind sie schon da.
„1 Riesenschritt = 2 Wochen Schneckentempo“ steht auf dem Wegweiser kurz vor dem Ziel. Da kann unsere Schnecke auf der Schulter des Riesen schon das Meer in der Ferne erkennen. Der Weg begann irgendwo in der Nähe von Wien (das wissen wir, weil Helga Bansch zum Teil Landkarten als Maluntergrund benutzt, alte Autographen von Kartenvorbesitzern, 7. Ulanenregiment / 3. Eskorte kann man erkennen) und führte schon nach kurzer Zeit zum Treffen mit einem Riesen. Dieser war bis jetzt ziellos hierhin gegangen und dorthin, verursachte dabei solch einen Lärm, dass er sich erst einmal ein paar Socken als Lärmschutz stricken muss. So lange muss die kleine Schnecke mit den orange-farbenen Punkten und dem niedlichen Häuschen mit den schiefen Fensterläden warten.
Heinz Janisch steht für die Entdeckung eines ruhigen Erzählflusses, einen beruhigten Lebensrhythmus, der schon andere Bücher von ihm wie die „Fliegenden Inseln” oder die Kindergedichte „Heute will ich langsam sein” oder den „Katzensprung“ auszeichnete. Da passt eine Schnecke wunderbar ins Bild, die geduldig bereit ist, auch eine lange Reise bis zu ihrem Ziel zu ertragen. Dass der Riese hier die Zeitspanne so verkürzt, widerspricht dem nicht, denn die Schnecke muss sich keinen Deut schneller bewegen, sie bleibt sich treu. Und auch der Riese nimmt sich die Zeit, erst seine schalldämmenden Socken fertig zu stricken, bevor er aufbricht. Und die erste Handlung am Meer ist stumme, achtungsvolle Betrachtung, dann später gemütliches Sonnenbad – für Hektik und aufgeregten Aktivismus ist da kein Platz.
Anders als die anderen Personen, Statisten allesamt und damit betraut, eine Situation zu verdeutlichen, wird der Riese nicht farbig gemalt, sondern als Zeichnung gestaltet. Gar nicht erklärt wird dabei seine Haarpracht am Kopf, die besteht nämlich aus dreizehn (ebenfalls mit Bleistift gezeichneten) Fischen.
Da die Situation eh merkwürdig ist, dürfen auch Haare aus Fischen bestehen, darf Rapunzel im Hintergrund einmal mitspielen und auch Frau Holle, dürfen sich fünf Nonnen fürchten vor der unheiligen Verbindung von Riese und Schnecke, während fünf Kommunionskinder nur Blicke haben für sich (und den Unfug, den eine macht). Immer laden die Bilder nach einem scheinbar klaren Ersteindruck zum vertieften Suchen ein, es finden sich Gags wie Schnecken-BH, Autounfälle und sich übergebende Riesenradfahrer. Das macht einfach Spaß, hält die Aufmerksamkeit und belohnt den aufmerksamen Sucher wie die „easter-eggs” moderner Medien. Überraschende Perspektiven prägen die Bilder, den gewaltigen Proportionen eines Riesen angemessen, im Blick von oder nach oben wechselnd, von der Totalen zum Detail. Sie amüsieren, weil eine der beiden „Personen” stets benachteiligt wird durch den Blickpunkt.
Helga Bansch überspachtelt, bemalt, zeichnet und bezeichnet, farbstark und in raffinierter Verteilung von flächiger Farbwirkung und detaillierter Verspieltheit in einem ganz persönlichen Stil, der auch ihre „freien“ Bilder bestimmt.
Das Motiv der gemächlichen Ruhe in Verbindung mit der erstaunlichen Freundschaft zweier so unterschiedlicher Wesen – das erstaunt zunächst, wird aber rasch als das Wunschmotto unserer Zeit erkennbar: Weg von der getakteten Welt und hin zu einer Welt friedlicher Koexistenz. Ach, wenn es doch so einfach wäre!
Eine schöne kleine Geschichte wurde mit witzigen Assoziationen in Szene gesetzt. Und eine schöne Motivation für den Riesen gefunden hat Heinz Janisch auch noch, denn ein Leben ohne Ziel ist ganz furchtbar langweilig. Gut, dass die unternehmenslustige Schnecke vorbei kam. Sehr zufrieden sehen sie aus, Riese, Schnecke und die Haar-Fische, die nun auch das Meer kennen lernen dürfen.
LesePeter 2006